Stillstand, und Verspätung

Wenn sich nichts bewegt, oder wenn etwas zu lange dauert, ist es auch nichts.

Als ich das letzte Mal, vor zwei Jahren, nach DE flog, merkte ich im Bus zum Flughafen, dass ich meine Ohrringe daheim vergessen hatte. Bis dahin hatte ich so eine Art Aberglauben, dass sie mir Glück brächten, und erschrak. Aber alles lief gut ab. Sehr gut. Diesmal hatte ich die Zahnbürste vergessen. Das merkte ich aber erst viel später.

Wenn der Verkehr zum Stillstand kommt, wenn du im Bus zum Flugplatz sitzt, machst du dir erst mal nicht gross Gedanken. Hast ja über zwei Stunden Spielraum. Das Wetter ist fabelhaft … Nach einer Weile steigst du aus, wie auch die Hälfte der Mitinsassen … Rauchst eine in dem Waldstück… Und noch eine. Bewunderst die, die im Bus hocken bleiben. So lange!

Schliesslich war einer vorgelaufen, kam zurück mit der Nachricht: Unfall. Lastwagen steht quer. Kann noch 2 Stunden dauern. Autos waren schon ausgeschert und umgedreht. Bus kann das nicht. Busfahrer beschliesst nun, auf der anderen Spur rückwärts zu fahren. Vorher telefoniert er aber noch lange. Braucht er Erlaubnis, von seiner Route abzuweichen?

Ich frage jemand nach der Uhrzeit. Er fragt, wann mein Flug geht. Den kriege ich nicht mehr, meint er. Ich hoffe noch. Ein junger Mann von hinten im Bus wird vom Busfahrer gebeten, ihn zu lotsen beim Rückwärtsfahren. Als es geklappt hat, klatschen alle. Ich auch.

Dann geht’s auf eine kleines Nebensträsschen, den Unfallort zu umfahren. Haarscharf manövriert uns der Busfahrer an einem grossen Traktor mit Anhänger und an einem Riesenlaster, die uns da entgegenkommen, vorbei. Wir klatschen jedesmal wieder. Ich fahre gerne Bus. Und hoffe immer noch. Der Flug könnte ja auch verspätet sein.

Schliesslich hat die junge Frau neben mir ihren Flug schon verpasst. Sie bucht einfach den nächsten. Nach Kopenhagen. Sagt sie. Nach Kopenhagen fliegt man anscheinend öfters täglich.
Nach Stuttgart erst wieder in drei Tagen.

Das findet die Frau am Aer Lingus Schalter auch heraus. Zu welchem anderen Flughafen in DE soll sie mir einen Ersatzflug buchen? Frankfurt. Von da fährt ein Zug nach Stuttgart. Düsseldorf? Nein. Kein Zug. Zu weit weg. München? Nein. Kein Zug. Also. 17 Uhr Abflug nach Frankfurt. 20.05 Ankunft. Um 17 Uhr hatte ich schon in Stuttgart angekommen sein wollen.

Nun hänge ich Stunden an diesem Flughafen herum. Ich hasse Flughäfen. Ausserdem kostet das jetzt viel mehr. Ich bin genervt. Erst mal raus, eine rauchen. Dann meinen Mann anrufen, dass er in meinem Büchle die Nummer meiner Schwägerin heraussucht. Ich habe nur die Nummer meiner Mutter, und meine eigene, im Kopf. Kein Handy in der Hand oder Tasche. Meine Mutter wollte vom Kaffeeklatsch direkt zum Flughafen fahren, mich abzuholen. Das geht nicht. Sie muss Bescheid bekommen. Von Frankfurt, wenn ich weiss, wann der Zug fährt, rufe ich sie dann an.

Ich verlasse das schreckliche neue Terminal. Laufe herum. Rauche wieder. Die Luft in den Terminals ist immer so schlecht, und so warm. Nie weiss ich, was in all den schrecklichen Gebäuden auf einem Flughafen verborgen ist. Ich weiss aber, wo ich einen Kaffee trinken werde. In der Passage unterm Parkhaus zum alten Terminal. Die ist offen. Da kommt frische Luft hinein.

Und wohl auch die beiden Vögel, die da auf dem Boden nach Abfallkrümeln suchen, zwischen Tischen und Stühlen. Manchmal setzen sie sich auf die Stuhllehnen und singen. Ich werfe ihnen ein paar Krümel von meinem Vesper hin. Selber kann ich noch nichts essen. Danach hockt sich einer mir gegenüber auf den Stuhl und singt wieder. Dank? Aufforderung? So machen sie es auch mit anderen, die beiden. Ich fühle mich auf einmal viel besser, fast wie daheim. Beruhige mich. Stare? Ich habe noch nie einen Star aus der Nähe gesehen. Dachte immer, die seien schwarz, gesprenkelt mit weissen Flecken. Diese sehen fast getigert aus.

Später zeigt mir meine Mutter eine Zeichnung in ihrem Lexikon. Ja, eindeutig Stare. Am nächsten Wochenende fliegen sie in riesigen Schwärmen durchs Neckartal. Um unser Haus, den Balkon herum. Hocken in Scharen auf dem Baukran nahebei, auf dem Firmenparkhaus gegenüber. Bilden wunderbare Formationen am Himmel, am erstaunlichsten die eines liegenden Eis, das sich schliesslich weiter und weiter entfernt.

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Beschleunigung – Acceleration

Schon, als ich noch Brigitte las, konnte ich sämtliche Anzeigen ignorieren. Aber gestern fiel mir diese ganzseitige Anzeige auf Seite 3 in der Irish Times augenblicklich ins Auge:

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(kann man’s lesen?)

Grosse, klare Schrift. Ausserdem sah das auf den ersten Blick aus wie ein Gedicht. Und so las ich diesen beängstigen Text von oben bis unten. Mehrmals seither.

Dabei fand ich eindeutige Anspielungen auf Elizabeth Bishop’s berühmte Villanella One Art:

“The art of losing isn’t hard to master …
Lose something every day ….
Then practice losing farther, losing faster ….”

In der Anzeige:

“Tomorrow belongs to the fast.

Winners and losers will be decided by
how quickly they can move from what they
are now to what they will become.”

Und vorletzte Zeile:

“And we are here to help everyone go further, faster.”

Bei Sintra in Portugal bin ich vor langer Zeit mit dem Freund einer Freundin eines Freundes im Auto mitgefahren, besser: mitgerast. Ein total eingebildeter Verrückter war das. Ob er noch lebt? Jedenfalls war ich danach nie mehr wieder so froh, aus einem Auto heil herauszukommen, noch gegenwärtig zu sein.

Āhnliche Gefühle weckt diese Anzeige bei mir.

Ob der Freund hinterm Steuer damals das Gedicht von Alvaro de Campos, einem der Heteronyme von Fernando Pessoa, kannte: At the wheel of the Chevrolet to the road to Sintra?

(englische Übersetzung)

“…
On the road to Sintra, and sad in the moonlight, with the night and fields before me,
Driving the borrowed Chevrolet, and miserable,
I lose myself on the road and things to come, vanish in the distance I am overtaking,
And out of some sudden, terrible, violent, incredible impulse,
I accelerate . . .
But left my heart back there on that stone pile I steered clear off,
Seeing it without seeing it,
At the door to the hovel,
My empty heart, … “

Quellen:

Irish Times, 2/11/2015
Mark Strand and Evan Boland: The Making of a Poem, W.W. Nortan and Company, 2001
Edwin Honig, Susan M. Brown: Poems of Fernando Pessoa, City Lights Books, 1998

The Sound of Europe im LIMA

Ich bin ein paar Tage zurück aus DE. Und muss das hier loswerden:

Ein Höhepunkt während meine Besuchs war The Sound of Europe im LIMA in Esslingen am Neckar. LIMA bedeutet literarisches Marionettentheater. Wer immer da mal in der Nähe ist, dem empfehle ich den Besuch einer Veranstaltung dort dringend. Ich mache ganz bewusst Werbung hier, weil es traurig ist, dass das kleine Figurentheater nur noch so wenige Besucher hat.

Ich habe eine eigene kleine historische Verbindung dazu. Denn, bevor Wilhelm Preetorius das Theater 1984 gründete, hatten wir in unserer kleinen Galerie in Stuttgart seine Marionetten ausgestellt. Wir waren damals ein gemeinnütziger Verein junger Enthusiasten. Er bereits ein älterer Herr. Er ist inzwischen verstorben.

Bei meinen Besuchen in DE werden immer, geplant oder auch nicht, Verbindungen zu Vergangenem auf verschiedene Weisen deutlich. Mal schmerzlich, mal fröhlich, mal überraschend, mal …

Auch das aktuelle Programm The Sound of Europe im Lima tut das auf eine eigenwillige Art. Visuell (Figuren:Schiller, Beethoven; Bild und Film), musikalisch (Beethoven’s Neunte), Texte (Schiller und Beethoven). Vor allem Schiller’s Worte zur Politik, Krieg und Frieden, zusammen mit den historischen Bildern aus seiner Zeit bis in die Gegenwart machen diese Inszenierung so (fast) unheimlich aktuell.

Das Theater selber ist mini, cosy, in einem mittelalterlichen Gewölbe eines der zwei ältesten Zunfthäuser in der Esslinger Altstadt untergebracht.

Scheren

Gestern habe ich das Herbstheft vom Lavendelschaf erhalten. Darin ein Artikel von mir über das Färben mit Würzkräutern: Lorbeer, Salbei, Pfefferminze, Majoran, Petersilie. Schöne Wõrter, nicht?

Leider wird es das Heft nur noch dreimal geben, weil Erdmute „in Rente“ geht. Sie ist so jemand wie debruma hier für wababbel.

So beginnt mein Beitrag, der im Winterheft zum Thema Schaf und Schärfe erscheinen wird:

Scheren

Wie bringe ich Schaf mit Schärfe zusammen, ausser vielleicht kulinarisch? Verbinde ich mit Schafen doch Weiches: die Wolle.
Aber ja! Man braucht etwas Scharfes, um sie dem Schaf abzunehmen: eine Schere, um das Schaf zu scheren.

Von ungefähr kommt es doch nicht, dass wir hier ein gleichlautendes Wort als Verb und als Nomen haben? Ich beschloss, mehr darüber herauszufinden.

Etymologisch gehen beide Wörter, und viele ãhnlich klingende in anderen europäischen Sprachen, auf die indoeuropäische Wurzel (s)ker = schneiden zurück. Im Englischen z.B. haben wir “to shear” und “shears”, wobei Letzteres heute in der Regel eine grosse Schere meint. Kleinere Scheren sind “scissors”. Lange wunderte ich mich, dass die Schere im Englischen ein Pluralwort ist. Nun lernte ich, dass das auch in anderen Sprachen so ist, und ursprünglich auch im Deutschen so war. Laut Duden hiess die Schere mittelhochdeutsch schaere, althochdeutsch scari, Plural von scar, und bedeutete wohl eigentlich “zwei Messer”. Auch das Wort scharf geht auf dieselbe Wurzel zurück: schneidend.

Scheren bedeutet eine Oberfläche kahlschneiden, rasieren, etwas kurz abschneiden. Damit in Zusammenhang entstanden im Alltag verwandte und abgeleitete Bedeutungen wie mähen, roden, abernten, durch Scheren der Tonsur zum Mönch bestimmen, belästigen, quälen, abteilen, ordnen, ausschliessen, zuteilen, die uns heute nicht mehr alle vertraut sind. Auch das Wort Schar, ursprünglich das Abgeschnittene, Zugeteilte, (An)teil, gehört hierher.

Wir scheren noch Teppiche und Hecken. Wir scheren uns um etwas. Manch einer schert sich um nichts, oder soll sich zum Teufel scheren, wenn er Scherereien macht. Und eine schöne Bescherung ist gerade das Gegenteil von der zu Weihnachten.

Die Herkunft des Wortes Schaf allerdings scheint nicht geklärt zu sein. Mittelhochdeutsch hiess es schaef, althochdeutsch scaf. Könnte es einmal “das/die Geschorene(n)” bedeutet haben, die, die man geschoren hat?

Die Schere ist ja ein tolles Werkzeug, das auf einem einfachen Prinzip beruht. Wie hätte man ein Schaf scheren können ohne sie? Ich wollte nun wissen, wann Mensch sie erfunden hat, und warum. Doch nicht etwa zum Schafe scheren? …

20150928

FOTO 2

Anklopfen

Letzten Sonntag besuchte ich den Josef in H. Er hat mich in seinem Haus herumgeführt.

Jedesmal, wenn er die Tür zu einem Zimmer aufmachte, hat er vorher angeklopft. Auch, als er mir etwas zu trinken anbot, und Gläser aus dem Schrank holte, klopfte er davor an die Schranktür. Dann wollte er mir Fotos zeigen, und klopfte an die Schublade, aus der er die Fotoalben holte. Ich fragte ihn schliesslich doch, warum er das tut, überall anklopfen. Wo doch gar keiner sonst da ist.

Da hat er mir erklärt, dass die Dinge in den Zimmern und Schränken eine Art Privatleben haben. Die Handtücher schauen sich die Fotos an, Gläser feiern Feste, Stühle unterhalten sich mit Tischen, Kissen veranstalten Kissenschlachten, Bücher lesen sich laut vor, und so fort. Er meinte, die Höflichkeit gebiete es, dass man anklopft, bevor man sie stört.

Je weniger

Je weniger ich schreibe, um so weniger schreibe ich.

Verallgemeinerbar?

Je weniger man schreibt, um so weniger schreibt man?
Je weniger …, um so weniger …

Ist das nicht einfach Tautologie?

Oder liegt in solchen tautologischen Saetzen auch Wahrheit?
(Vielleicht sind sie logisch immer wahr?)

Davon abgesehen: Nur her mit anderen Beispielen.