What time is it now, where you are? (Colum McCann)

Zwei Tage nach meiner Ankunft fiel das Telefon im Haus meiner Mutter aus, damit auch das meines Bruders und meiner Schwägerin. Es dauerte einige Tage, bis Telecom reparierte. Dafür wurde gegraben. Mir war neu (oder auch nur entfallen?), dass in DE Telefonkabel unterirdisch verlaufen. Hier bin ich gewohnt, dass Bäume bei Sturm, oder grosse Lastwägen, die herunter reissen, und Leute von Eircom, neuerdings Eir genannt, auf Leitern steigen, um sie zu reparieren.

Wäre die Telefonanlage am Tag meiner Reise schon kaputt gewesen, wäre zumindest die letzte hier erzählte Episode etwas anders abgelaufen.

Trotzdem hätte das Buch, das ich am Flughafen kaufte, gepasst. Es ist wirklich erstaunlich, wie gut meine Wahl gewesen ist. Schon oft hatte ich Colum McCann in der Irish Times besprochen gelesen. Aber da ich nicht wirklich Romanleserin bin, überlas oder überflog (sic) ich diese Artikel meistens nur. Ich hatte auch gelesen, dass Colum McCann böse zusammengeschlagen worden war vor einiger Zeit. Wahrscheinlich kennt den Autor hier jeder besser als ich bisher.

In Thirteen Ways of Looking spielt ein Telefon in den ersten beiden Geschichten, wobei die erste lange, die dem Buch den Titel gab, eher eine Novelle ist, jeweils eine nicht unwesentliche Rolle, ebenso wie ganz verschiedene Perspektiven auf das, was geschildert wird.

In der Novelle trifft sich ein alter ehemaliger Richter an, wie sich herausstellt, seinem letzten Abend, mit seinem Sohn zum Essen. Der aber hängt fast nur an seinem Handy, so sehr, dass er nicht einmal zum Essen kommt. Das Telefon hier nicht Mittel der Verbindung über Entfernung hinweg, sondern Behinderung der Kommunikation zwischen zwei Menschen, die sich am selben Ort befinden:

“And there it is again, shimmying and shaking, vibrating on the table, what is this, Candid Camera?
-Sorry, Dad.
-Oh, that’s okay, go ahead, take it, really, it’s okay.
Though it’s not okay, it’s far from okay, it’s light years from okay – just do the right thing and turn the phone off, would you, please, son ….

Elliot leans across and with the charm of which he is sometimes capable says: Do you mind, Father? I really have to take this one.
Do I what? Of course I mind. Here we are breaking bread, and all you want to do is jabber on endlessly. … I’m a sentimental old fool, I’m dripping with nostalgia, but cynics bore me, and I might as well wear my heart on my sleeve, I’d like to talk to you without interruption, can you give me at least that?
– No problem, Elliot.
– Thanks, Dad.

Die nächste Geschichte, What Time Is It Now, Where you Are? ist viel kürzer. Und unheimlich interessant für jeden, der fiction schreibt. Ein Autor soll eine Neujahrsgeschichte für eine Zeitschrift schreiben. Das Entstehen der Geschichte übers Jahr und die Geschichte selbst verweben sich, Werden sie eins? Hhm. Ja, doch wohl, in diesem Text. Auszug aus einer Bespechung der Seattle Times, zitiert auf Colum McCanns website:

“And in ‘What Time Is It Now, Where You Are?,’ a tiny masterpiece of writing about writing, we’re in the head of a McCann-like author, sitting in his New York apartment, dreaming up a story. Ideas, phrases (one from Joyce, again) flit through his head; memories of his childhood invade the fiction he’s creating. Ultimately the story becomes a barrage of questions about the characters he’s birthed, pummeling like hailstones. He writes, in that quiet apartment, because he needs to find the answers.”

So beginnen die Fragen:

“How is it, that a particle of a voice gets transmitted down a telephone line. How is it that Sandi summons up a simple phrase, and the muscles in her throat contract? How is it that Kimberlee hears a sound and already her hand is moving through space to reach for the white kitchen phone?

In der weiteren “Barrage” von Fragen bekommen wir Antworten, die uns (und den fiktiven Autor?) das Vorhergehende verstehen lassen aus dieser Geschichte, die er nach und nach entwickelt hat. Es läuft letztlich alles darauf hinaus,, was die Protagonistin, Soldatin in Afghanistan, an ihrem Satellitentelefon sagen wird um Mitternacht am Silvesterabend. Sie und der Autor (und Leser) warten auf diesen Anruf.

In allen vier Geschichten in diesem Buch spielen verschiedene Perspektiven auf Geschehenes, Geschehendes, eine Rolle, aber ich finde die ersten beiden am besten, weil sie dort auch in der Art und Weise des Erzählens verwirklicht sind, wenn man das so sagen kann. Die anderen beiden sind mehr üblich geschildert.

Der alte Richter in der Novelle stirbt auf dem Nachhauseweg nach einem Anschlag ähnlich dem, den Colum McCann selber erlebt hat. Aber, wie er im Nachwort schreibt, war der Anschlag auf den Richter schon als Idee da, bevor er selbst niedergeschlagen wurde. Auf seiner website hat er nun ausser einem ausführlichen Nachwort zu Thirteen Ways of Looking auch sein Victim Impact Statement veröffentlicht.

“Sometimes it seems to me we write our lives in advance, sometimes we can only ever look back.” schreibt er am Ende des Buches in seiner Author’s Note.

Perspektiven

– Ja wo bist du denn?
Ich hõre sie gut. Das wundert mich. Oft habe ich am Telefon Schwierigkeiten zu verstehen. Ich hõre auch ihre Aufregung. Warum? Ich bin etwas später dran, als ich geplant hatte, aber
– Ich bin jetzt im Zug. Früher konnte ich nicht anrufen, ich wusste ja noch nicht
– Ich weiss, warum du nicht anrufen konntest. Du hast deinen Geldbeutel verloren.

Hä? denke ich, und frage
-Woher weisst DU das denn?

Ein Mann habe ihn gefunden und bei meinem Mann angerufen, der daraufhin nochmal bei meiner Schwägerin anrief und ihr auch das mitteilte.
Wir werden unterbrochen. Der langhaarige Mann links von mir auf der anderen Seite vom Gang sagt “Tunnel”. Die Frau wählt etwas später nochmal die Nummer. Gut, ist der Geldbeutel also nicht verloren, geht es mir flüchtig durch den Kopf.

Familie sass bei meiner Mutter zusammen, aus Anlass meiner Ankunft und meiner Nichtes Geburtstag hatte sie alle eingeladen. Im weiteren Gespräch stellt sich heraus, dass sich alle den ganzen Abend Sorgen gemacht hatten, wie und ob ich ohne Geld und Ausweis überhaupt weiterreisen konnte. Mein Bruder habe rumtelefoniert, ob er irgendwo am Frankfurter Flughafen Geld für mich hinterlegen könnte.… Ich beruhige meine Mutter, ich hätte noch Geld und Pass, werde meinen Spruch doch noch los, und gebe meine geplante Ankunft am Stuttgarter Hauptbahnhof an. Eine meiner Nichten wird mich abholen. Die Frau will kein Geld für den Anruf. Sie und der langhaarige Mann schmunzeln.

Es ist finster. Kein Wunder hatte ich keinen Tunnel bemerkt. Ich kaufe ein Ticket. Die Kontrolleurin ist freundlich, und als ich ihr erkläre, warum ich kein Kleingeld habe, verlangt sie etwas weniger dafür. Vor Stuttgart beginnt der Zug zu zuckeln.Trotzdem sehe ich draussen nichts. Keine Stuttgart 21 Baustellen. Ich werde ungeduldig. Nachts reisen ist absurd.

Endlich bin ich draussen, und wie wohltuend, vertraute Menschen in den Arm zu nehmen. Endlich ist die Anonymität vorbei. Die alte Bahnhofhalle steht noch. Ich erkenne auch sie wieder.
Gerade noch am selben Tag komme ich am Ziel an.
Hunger habe ich keinen. Aber Wein tut jetzt gut. Anspannung löst sich bei jedem.

Der Clou: Mein Mann und meine Familie wussten, dass ich den Geldbeutel verloren hatte, bevor ich es selber bemerkte!
Und ich frage mich noch immer, was nun in diesen Stunden wahr war. Wir hatten alle eine andere, auf verschiedenen Prämissen beruhende Perspektive, verschiedene Gefühle, haben die gleichen Stunden und meine Reise daher ganz verschieden erlebt. Gab es da so etwas wie Wahrheit?

Als Fakt stellte sich der Verlust des Geldbeutels heraus. Der Mann hat ihn – anscheinend – nicht, wie von meinem Mann gebeten, am Flughafen abgegeben. Das wird nach dem Rückflug klar, als ich wieder hetzen muss, um das Büro der Flughafenpolizei zu finden, das gleichzeitig Fundstelle ist, bevor ich den Bus nehmen kann. “We don’t have it.”, sagte die Polizistin hinterm Schalter. Und “That was bad luck.” Ich vermisse ihn noch immer. Nicht so sehr wegen des Geldes, sondern wegen seiner Eigenart, die mir so lange vertraut war.

Daheim überlege ich, wie anders alles wohl gelaufen wäre, hätte ich ein Handy oder ein Smartphone besessen. Und ich denke, Mein Gott, du bist doch bloss zwischen zwei Daheims gereist. Einen Tag Stress, etwas Geld verloren. Na ja, zwei Tage, wenn man Hin- und Rückreise betrachtet. An letztere können die Flüchtlinge gar nicht denken, von denen in DE so viel die Rede war.

Verlust

“When the blackbird flew out of sight,
It marked the edge
Of one of many circles.”
Wallace Stevens

Während ich am Flughafen herumhänge, kaufe ich mir erst mal was zu lesen – noch im alten Terminal: Colum McCann: Thirteen Ways of Looking. Erstens hat es einen Aufkleber: Half Price, zweitens sind die Kapitel der ersten langen Geschichte mit den Strophen von Wallace Stevens‘ Gedicht Thirteen Ways of Looking at a Blackbird überschrieben. Lesen tue ich es erst in DE.

Immer wieder fallen mir die Computer auf, die da und dort in Vierergruppen herumstehen. Schliesslich beschliesse ich doch, mich an einen zu setzen. Herauszufinden, wann Züge von Frankfurt nach Stuttgart fahren. Umsonst ist das nicht, merke ich. Ich muss mindestens drei Euro einwerfen. So viel Kleingeld habe ich gerade noch. Und herausfinden, wann genau ich das einwerfen muss, bevor ich auf der Seite der Deutschen Bahn lande, und zweimal geschockt werde. 69 Euro soll das kosten. Was? Das ist fast so viel wie der neue Flug, den ich hatte buchen müssen. Weiter sagt mir die Seite, dass der letzte Zug um 20.50 Uhr geht. Ob das zu schaffen ist? Ich klicke mehrmals auf “später”, aber es wird nichts angezeigt. (Inzwischen weiss ich, dass die drei Euro nicht für “später” gereicht haben.) Mist! Muss ich auch noch in Frankfurt übernachten?

Ich schalte wie üblich, wenn ich fliegen muss, auf Alles über mich ergehen lassen. So ähnlich stelle ich mir immer Meditation vor.

Erst mal nun die Sicherheitskontrolle. Dann den fürchterlichen Bereich mit den Duty Free Shops. Parfüm? Viel zu teuer. Mein Budget ist zudem schon empfindlich gekürzt. Vor dem Bildschirm hocken und warten, bis das Gate endlich angezeigt wird. Mich auf den langen Weg dorthin machen. Unterwegs sehe ich ein Telefon. Vielleicht sollte ich doch meine Mutter schnell anrufen, dass es vielleicht nicht klappt mit dem Zug… Muss ich aber erst Geld wechseln. Das letzte Kleingeld ging ja in den Computer.

Ich finde meinen Geldbeutel nicht. Suche in Hand- und Manteltaschen. Lass die Handtasche von der Verkäuferin im Laden durchsuchen, weil ich so aufgeregt bin. Sie findet nur den anderen, in dem Gott sei Dank das meiste Geld ist. Aber im anderen war auch noch genug. Der Pass passte in keinen von ihnen. Ich renne nun hin und her, werde von einem zum anderen geschickt. Sicherheit lässt mich nicht mehr raus. Ich bin sicher, den Geldbeutel bei diesem verdammten Computer liegengelassen oder verloren zu haben. Boarding hat schon begonnen. Schliesslich weist mich eine andere liebe Verkäuferin auf eine Art Sicherheitsangestellten hin. Der telefoniert mit einem Kollegen. Aber bei diesen Computern wird mein Geldbeutel nicht gefunden. Ich fliege ohne ihn.

In Frankfurt fährt der Flieger nach der Landung noch elend lange irgendwo herum, bis wir endlich aussteigen dürfen. Bus bringt uns zum Terminal. Ich renne zur Gepäckausgabe. Das Gepäck kommt erstaunlich schnell. Wo ist jetzt der Bahnhof?

Am anderen Terminal, wie sich herausstellt. Nochmal Bus fahren. Einige Zeit auf ihn warten. Das wenigstens draussen. Endlich wieder draussen! Ich rauche. Im Shuttle Bus sitze ich neben einem Iren, relativ junger Mann, der geschäftsmännisch aussieht.Ich komme mit ihm ins Gespräch. Seine Mutter wohnt in Kinlough. Er kennt Leitrim gut. Ich fühle auf einmal nicht mehr so sehr, in Frankfurt zu sein. Er checkt für mich die Züge auf seinem Smartphone. Aber wusste schon vorher, will ja selber nach Mannheim: Es gehen noch weitere Züge am Abend. Uff. Ich finde mich wieder mal beruhigt.

Am Bahnhof erfahre ich, dass ich im Zug zahlen kann. Muss also keine Zeit am Ticketautomat verschwenden. Sobald ich im Zug sitze, frage ich einen jungen Mann, ob ich sein Handy benutzen kann. Der stellt sich an. Also ein paar Sitze weiter eine Frau, etwas jünger als ich.. Sie zögert etwas, lässt mich aber.

Ich werde den lustigen Spruch an meine Muttter, den ich mir ausgedacht hatte, nicht gleich los: Ich bin im Land, aber noch nicht …, denn Sie unterbricht mich sofort.

Stillstand, und Verspätung

Wenn sich nichts bewegt, oder wenn etwas zu lange dauert, ist es auch nichts.

Als ich das letzte Mal, vor zwei Jahren, nach DE flog, merkte ich im Bus zum Flughafen, dass ich meine Ohrringe daheim vergessen hatte. Bis dahin hatte ich so eine Art Aberglauben, dass sie mir Glück brächten, und erschrak. Aber alles lief gut ab. Sehr gut. Diesmal hatte ich die Zahnbürste vergessen. Das merkte ich aber erst viel später.

Wenn der Verkehr zum Stillstand kommt, wenn du im Bus zum Flugplatz sitzt, machst du dir erst mal nicht gross Gedanken. Hast ja über zwei Stunden Spielraum. Das Wetter ist fabelhaft … Nach einer Weile steigst du aus, wie auch die Hälfte der Mitinsassen … Rauchst eine in dem Waldstück… Und noch eine. Bewunderst die, die im Bus hocken bleiben. So lange!

Schliesslich war einer vorgelaufen, kam zurück mit der Nachricht: Unfall. Lastwagen steht quer. Kann noch 2 Stunden dauern. Autos waren schon ausgeschert und umgedreht. Bus kann das nicht. Busfahrer beschliesst nun, auf der anderen Spur rückwärts zu fahren. Vorher telefoniert er aber noch lange. Braucht er Erlaubnis, von seiner Route abzuweichen?

Ich frage jemand nach der Uhrzeit. Er fragt, wann mein Flug geht. Den kriege ich nicht mehr, meint er. Ich hoffe noch. Ein junger Mann von hinten im Bus wird vom Busfahrer gebeten, ihn zu lotsen beim Rückwärtsfahren. Als es geklappt hat, klatschen alle. Ich auch.

Dann geht’s auf eine kleines Nebensträsschen, den Unfallort zu umfahren. Haarscharf manövriert uns der Busfahrer an einem grossen Traktor mit Anhänger und an einem Riesenlaster, die uns da entgegenkommen, vorbei. Wir klatschen jedesmal wieder. Ich fahre gerne Bus. Und hoffe immer noch. Der Flug könnte ja auch verspätet sein.

Schliesslich hat die junge Frau neben mir ihren Flug schon verpasst. Sie bucht einfach den nächsten. Nach Kopenhagen. Sagt sie. Nach Kopenhagen fliegt man anscheinend öfters täglich.
Nach Stuttgart erst wieder in drei Tagen.

Das findet die Frau am Aer Lingus Schalter auch heraus. Zu welchem anderen Flughafen in DE soll sie mir einen Ersatzflug buchen? Frankfurt. Von da fährt ein Zug nach Stuttgart. Düsseldorf? Nein. Kein Zug. Zu weit weg. München? Nein. Kein Zug. Also. 17 Uhr Abflug nach Frankfurt. 20.05 Ankunft. Um 17 Uhr hatte ich schon in Stuttgart angekommen sein wollen.

Nun hänge ich Stunden an diesem Flughafen herum. Ich hasse Flughäfen. Ausserdem kostet das jetzt viel mehr. Ich bin genervt. Erst mal raus, eine rauchen. Dann meinen Mann anrufen, dass er in meinem Büchle die Nummer meiner Schwägerin heraussucht. Ich habe nur die Nummer meiner Mutter, und meine eigene, im Kopf. Kein Handy in der Hand oder Tasche. Meine Mutter wollte vom Kaffeeklatsch direkt zum Flughafen fahren, mich abzuholen. Das geht nicht. Sie muss Bescheid bekommen. Von Frankfurt, wenn ich weiss, wann der Zug fährt, rufe ich sie dann an.

Ich verlasse das schreckliche neue Terminal. Laufe herum. Rauche wieder. Die Luft in den Terminals ist immer so schlecht, und so warm. Nie weiss ich, was in all den schrecklichen Gebäuden auf einem Flughafen verborgen ist. Ich weiss aber, wo ich einen Kaffee trinken werde. In der Passage unterm Parkhaus zum alten Terminal. Die ist offen. Da kommt frische Luft hinein.

Und wohl auch die beiden Vögel, die da auf dem Boden nach Abfallkrümeln suchen, zwischen Tischen und Stühlen. Manchmal setzen sie sich auf die Stuhllehnen und singen. Ich werfe ihnen ein paar Krümel von meinem Vesper hin. Selber kann ich noch nichts essen. Danach hockt sich einer mir gegenüber auf den Stuhl und singt wieder. Dank? Aufforderung? So machen sie es auch mit anderen, die beiden. Ich fühle mich auf einmal viel besser, fast wie daheim. Beruhige mich. Stare? Ich habe noch nie einen Star aus der Nähe gesehen. Dachte immer, die seien schwarz, gesprenkelt mit weissen Flecken. Diese sehen fast getigert aus.

Später zeigt mir meine Mutter eine Zeichnung in ihrem Lexikon. Ja, eindeutig Stare. Am nächsten Wochenende fliegen sie in riesigen Schwärmen durchs Neckartal. Um unser Haus, den Balkon herum. Hocken in Scharen auf dem Baukran nahebei, auf dem Firmenparkhaus gegenüber. Bilden wunderbare Formationen am Himmel, am erstaunlichsten die eines liegenden Eis, das sich schliesslich weiter und weiter entfernt.

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Beschleunigung – Acceleration

Schon, als ich noch Brigitte las, konnte ich sämtliche Anzeigen ignorieren. Aber gestern fiel mir diese ganzseitige Anzeige auf Seite 3 in der Irish Times augenblicklich ins Auge:

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(kann man’s lesen?)

Grosse, klare Schrift. Ausserdem sah das auf den ersten Blick aus wie ein Gedicht. Und so las ich diesen beängstigen Text von oben bis unten. Mehrmals seither.

Dabei fand ich eindeutige Anspielungen auf Elizabeth Bishop’s berühmte Villanella One Art:

“The art of losing isn’t hard to master …
Lose something every day ….
Then practice losing farther, losing faster ….”

In der Anzeige:

“Tomorrow belongs to the fast.

Winners and losers will be decided by
how quickly they can move from what they
are now to what they will become.”

Und vorletzte Zeile:

“And we are here to help everyone go further, faster.”

Bei Sintra in Portugal bin ich vor langer Zeit mit dem Freund einer Freundin eines Freundes im Auto mitgefahren, besser: mitgerast. Ein total eingebildeter Verrückter war das. Ob er noch lebt? Jedenfalls war ich danach nie mehr wieder so froh, aus einem Auto heil herauszukommen, noch gegenwärtig zu sein.

Āhnliche Gefühle weckt diese Anzeige bei mir.

Ob der Freund hinterm Steuer damals das Gedicht von Alvaro de Campos, einem der Heteronyme von Fernando Pessoa, kannte: At the wheel of the Chevrolet to the road to Sintra?

(englische Übersetzung)

“…
On the road to Sintra, and sad in the moonlight, with the night and fields before me,
Driving the borrowed Chevrolet, and miserable,
I lose myself on the road and things to come, vanish in the distance I am overtaking,
And out of some sudden, terrible, violent, incredible impulse,
I accelerate . . .
But left my heart back there on that stone pile I steered clear off,
Seeing it without seeing it,
At the door to the hovel,
My empty heart, … “

Quellen:

Irish Times, 2/11/2015
Mark Strand and Evan Boland: The Making of a Poem, W.W. Nortan and Company, 2001
Edwin Honig, Susan M. Brown: Poems of Fernando Pessoa, City Lights Books, 1998