Perspektiven

– Ja wo bist du denn?
Ich hõre sie gut. Das wundert mich. Oft habe ich am Telefon Schwierigkeiten zu verstehen. Ich hõre auch ihre Aufregung. Warum? Ich bin etwas später dran, als ich geplant hatte, aber
– Ich bin jetzt im Zug. Früher konnte ich nicht anrufen, ich wusste ja noch nicht
– Ich weiss, warum du nicht anrufen konntest. Du hast deinen Geldbeutel verloren.

Hä? denke ich, und frage
-Woher weisst DU das denn?

Ein Mann habe ihn gefunden und bei meinem Mann angerufen, der daraufhin nochmal bei meiner Schwägerin anrief und ihr auch das mitteilte.
Wir werden unterbrochen. Der langhaarige Mann links von mir auf der anderen Seite vom Gang sagt “Tunnel”. Die Frau wählt etwas später nochmal die Nummer. Gut, ist der Geldbeutel also nicht verloren, geht es mir flüchtig durch den Kopf.

Familie sass bei meiner Mutter zusammen, aus Anlass meiner Ankunft und meiner Nichtes Geburtstag hatte sie alle eingeladen. Im weiteren Gespräch stellt sich heraus, dass sich alle den ganzen Abend Sorgen gemacht hatten, wie und ob ich ohne Geld und Ausweis überhaupt weiterreisen konnte. Mein Bruder habe rumtelefoniert, ob er irgendwo am Frankfurter Flughafen Geld für mich hinterlegen könnte.… Ich beruhige meine Mutter, ich hätte noch Geld und Pass, werde meinen Spruch doch noch los, und gebe meine geplante Ankunft am Stuttgarter Hauptbahnhof an. Eine meiner Nichten wird mich abholen. Die Frau will kein Geld für den Anruf. Sie und der langhaarige Mann schmunzeln.

Es ist finster. Kein Wunder hatte ich keinen Tunnel bemerkt. Ich kaufe ein Ticket. Die Kontrolleurin ist freundlich, und als ich ihr erkläre, warum ich kein Kleingeld habe, verlangt sie etwas weniger dafür. Vor Stuttgart beginnt der Zug zu zuckeln.Trotzdem sehe ich draussen nichts. Keine Stuttgart 21 Baustellen. Ich werde ungeduldig. Nachts reisen ist absurd.

Endlich bin ich draussen, und wie wohltuend, vertraute Menschen in den Arm zu nehmen. Endlich ist die Anonymität vorbei. Die alte Bahnhofhalle steht noch. Ich erkenne auch sie wieder.
Gerade noch am selben Tag komme ich am Ziel an.
Hunger habe ich keinen. Aber Wein tut jetzt gut. Anspannung löst sich bei jedem.

Der Clou: Mein Mann und meine Familie wussten, dass ich den Geldbeutel verloren hatte, bevor ich es selber bemerkte!
Und ich frage mich noch immer, was nun in diesen Stunden wahr war. Wir hatten alle eine andere, auf verschiedenen Prämissen beruhende Perspektive, verschiedene Gefühle, haben die gleichen Stunden und meine Reise daher ganz verschieden erlebt. Gab es da so etwas wie Wahrheit?

Als Fakt stellte sich der Verlust des Geldbeutels heraus. Der Mann hat ihn – anscheinend – nicht, wie von meinem Mann gebeten, am Flughafen abgegeben. Das wird nach dem Rückflug klar, als ich wieder hetzen muss, um das Büro der Flughafenpolizei zu finden, das gleichzeitig Fundstelle ist, bevor ich den Bus nehmen kann. “We don’t have it.”, sagte die Polizistin hinterm Schalter. Und “That was bad luck.” Ich vermisse ihn noch immer. Nicht so sehr wegen des Geldes, sondern wegen seiner Eigenart, die mir so lange vertraut war.

Daheim überlege ich, wie anders alles wohl gelaufen wäre, hätte ich ein Handy oder ein Smartphone besessen. Und ich denke, Mein Gott, du bist doch bloss zwischen zwei Daheims gereist. Einen Tag Stress, etwas Geld verloren. Na ja, zwei Tage, wenn man Hin- und Rückreise betrachtet. An letztere können die Flüchtlinge gar nicht denken, von denen in DE so viel die Rede war.

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